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Roman „Chip“
 
Beide sind jetzt im Krankenhaus. Auf der Entbindungs-Station. Mann und Frau, eigentlich sind sie glücklich. Ihr Kind ist wohl gesund, ebenfalls haben es die verschiedenen Screening-Untersuchungen ergeben, sie haben ihr Kind sogar schon gesehen, ein bißchen merkwürdig es im Arm zu halten, zweifellos ein erhabenes Gefühl. Das Kind hat schon einen Namen, der Computer suchte ihn aus, besondere Namen kosten bei der Anmeldung etwas mehr Geld, sie sind jedoch einmalig, aus maximal 9 Buchstaben zusammengewürfelt, dann nach dem Klang ausgesucht. Sie hatten sich für Marfeline entschieden, beide wählten die Buchstaben und, dass es ein Mädchen sein würde, wussten sie natürlich auch schon. Die Eltern heißen Helmut und Irene, es waren damals Namen ohne Aufpreis.
 
Das Kind war also gesund, jetzt steht also die Operation an. Welche Operation? Die Operation für alle Kinder, nun ja, eigentlich nicht für alle, aber für alle besser gestellten. Es ist ja nicht ganz billig, obwohl schon deutlich preiswerter geworden. Es sind Milliarden in die Entwicklung und dann in die Fließbandproduktion dieser Sache bereits investiert worden, dass schließlich verbilligte den Chip. Es handelt sich um einen Chip, der implantiert werden soll. In das Gehirn. Eine Art Gehirnsverstärker, konnektiert mit verschiedenen Strukturen im limbischen System und im Gyrus postcentralis, kann er als effektiver Verstärker der Gehirnsleistung angesehen werden. Also, etwa 3 Monatsgehälter muss man investieren, dann noch einmal das gleiche für die Operation. Eine Erfolgsgarantie gibt es natürlich nicht, doch wenn es gelingt, hat Marfeline deutlich bessere Chancen, sie ist dann einfach besser einsetzbar. Heutzutage ist das Leben nicht ganz leicht, es geht schließlich darum, den gesamten computerisierten Überbau am Laufen zu halten. Das schafft nicht jeder, mit so einem Chip hat man bereits einen quasi angeborenen Überblick über die wesentlichen Programme, die sowohl bei der Regierung, als auch im Wirtschaftswesen installiert sind. Es geht auch viel einfacher, sich über Änderungen zu informieren, man muss nur entsprechende Updates anfordern. Wenn man richtig gut Bescheid weiß, kann man sich auch richtig nützlich machen, das bringt Geld. Der Chip hat auch, gegen einen Aufpreis, versteht sich, ein Wellness-Programm eingebaut. Verschiedene Wohlfühlsituationen werden auf Knopfdruck geliefert, bis hin zum morphinähnlichen Kick.
 
Dies ist dann allerdings zeitlich begrenzt, es gab eine Abstimmung darüber, dieses Programm entweder ganz zu sperren, oder z.B. nur einmal im Jahr, z.B. zu Weihnachten, zuzulassen. Man hatte Berechnungen angestellt, mit welcher Häufigkeit dieses Programm die Produktivität des Menschen noch fördern könnte oder welche Häufigkeit dann zu einer abnehmenden Produktivität führen würde. Die verschiedenen politischen Blöcke hatten große Studien in Auftrag gegeben, die Ergebnisse waren etwas unterschiedlich, je nach Beteiligung der Industrie.
 
Nun sollte also die Operation erfolgen, am günstigsten hatte sich der 3. Lebenstag erwiesen. Der Chip konnte dann so eingestellt werden, dass er die Entwicklung des Kindes noch sehr vorteilhaft beschleunigen konnte, z.B. konnte das Sprechen lernen um den Faktor 3 beschleunigt werden, einfach dadurch, dass die Lernmotivation erhöht wurde. Der Chip konnte Frust und Belohnungen signalisieren, je nach Aktivität des Sprachzentrums.
 
Natürlich war die Operation nicht ganz problemlos. Es mussten schließlich Bahnen durchtrennt und der Chip dazwischen gesetzt werden, das Problem der Abstoßung und eventueller Blutungen war gelöst durch eine spezielle Oberflächenbeschichtung mit Rheologika. Das Kind musste sich jedoch in den nächsten Tagen ruhig verhalten, damit das biologische Gewebe nicht am Chip abrutscht. Auch dies kein unlösbares Problem, weil eine Schaltung für die Ruhigstellung mit eingebaut war, dies hatte den interessanten Nebeneffekt, dass das Kind, auch über den Computer gesteuert, immer ruhig schlafen konnte.
 
All das hatte man den Eltern berichtet, als sie ihre Elternschaft anmeldeten. Helmut hatte überlegt, ob sie sich überhaupt anmelden sollten, es gab schließlich keine Verpflichtung hierzu, Irene bestand jedoch darauf. Ihr schlagendes Argument waren die besseren Chancen von Marfeline. Schließlich hatte sie selber auch einen Chip, allerdings deutlich weniger komfortabel und mit höherem Implantationsrisiko, aber er diente ihr zuverlässig in ihrem Beruf. Sie hatte eine gute Position in der Nahrungsmittelindustrie. Der Chip ermöglichte es ihr, alle Programme, von der Nahrungsmittel-Fabrikation bis zur Distribution und den Auswirkungen auf die Industrie zu kennen und diese Programme mit den Steuerungsmöglichkeiten verbessern zu können. Helmut hatte noch keinen Chip, er war darauf angewiesen, ständig seine Smartphone-Virtual-Brille zu tragen, neulich hatte er sich aber auch ein Upgrade-Gerät geleistet, die neue Brille konnte jetzt auch wunderbare Bilder zu seiner Entspannung liefern. Das war allerdings auch bitter nötig, denn er war in punkto Ausgeglichenheit um Klassen schlechter dran, als Irene; sie konnte ja einfach die Pausen-Automatik ihres Chips benutzen. Nun aber waren beide zufrieden, ihr Nachwuchs würde es einmal gut haben.
 
So einfach war das mit Gutgehen dann allerdings auch nicht, damit der Chip nicht all zu teuer werden würde, mussten sie ein gewisses Mitspracherecht in Bezug auf Leistungsfähigkeit und Produktion von staatlicher Seite einräumen. Es bestand darin, dass man die Produktivität, die ja ständig gemessen wurde, doch auch mit dem Wellnessbereich abgleichen würde. Was würde denn ihr Kind einmal werden wollen? Sehr gut bezahlt wurde ja die Arbeit mit den Reparatur-Robotern, diese waren unersetzlich, denn die Störanfälligkeit der Produktionsstraßen war immer noch relativ hoch. In der Nähe war jetzt eine neue Fabrik eröffnet worden, zur Verbesserung der Reparatur-Roboter, bei gutem Reifungsprozess könnte Marfeline dort schon im Alter von 14 Jahren Geld verdienen.
 
Dennoch, je näher der 3. Tag nach der Geburt rückte, desto mehr machte sich bei Helmut Beklommenheit breit. Dieses tiefe Glück, Vater geworden zu sein, es war schließlich ihr erstes Kind, blieb erhalten, diese Operation jedoch, sie war ja eine Manipulation seines Kindes, er wollte sein Kind eigentlich so haben, wie es geht auf die Welt gekommen war. Er musste allerdings zugeben, dass es keinen Zweck hatte, hier zu viel auf die eigenen Gefühle Rücksicht zu nehmen. Es war der Lauf der Zeit.
 
Sein Großvater hatte ihm einmal berichtet, wie es zu der Entwicklung gekommen war. Vor 60 Jahren gab es gewisse Fortschritte in der Medizin. Man hatte viel mit der Verbindung von Nervenzellen und elektrischen Kontakten experimentiert. Gleichzeitig lernte die Industrie viel über Zellkulturen, die Möglichkeit zu klonen, mit Zellkulturen nicht nur Krankheiten zu heilen, sondern auch zu experimentieren und zwar außerhalb eines Lebewesens, es eröffnete die Möglichkeit, Nervenzellen auf das genaueste zu untersuchen und schließlich Mikroelektronik und Computer so einzurichten, dass man einzelne Zellen sicher erreichen und steuern konnte. Es war ein großer Vorteil für die entsprechende Industrie, dass sich gleichzeitig mit dem Fortschritt der Elektroneurologie auch ein großes Experimentierfeld in den Ländern der Dritten Welt erschließen ließ. Hier gab es Millionen und Milliarden zunehmend verzweifelter Menschen, die für Geld mit sich experimentieren ließen. Die Regierungen dieser Länder schafften es schließlich, die gesetzliche Grundlage für solche Studien auf einen breiteren Rahmen zu stellen, indem sie die Persönlichkeitsrechte erweiterten, einerseits den Menschen das Recht einzurichten, solche Manipulationen bei sich zuzulassen und andererseits auch die Forscher von jeglichen Haftungsansprüchen und moralischen Bedenken befreien zu können. Dies war erst der Anfang. Der große Aufwand führte schließlich dazu, dass man, zunächst nur über die Steuerung der Motivation, dann aber auch mit Hilfe von Datenübertragungen, die intellektuelle Leistungsfähigkeit dieser Menschen steigern konnte. In manchen Ländern wollte schließlich jeder so ein Gerät besitzen, weil dadurch die Chancen auf dem weltweiten Arbeitsmarkt wesentlich besser waren, ein Mensch mit Gehirnsverstärker war den anderen Arbeitnehmern überlegen, er konnte besser eingesetzt werden und mehr Geld verdienen.
 
In der westlichen Welt war diese Art der Manipulation erst verpönt, als sich jedoch herausstellte, dass die Arbeitgeber Menschen ohne diese Geräte nicht mehr so gut einsetzen konnten und entließen, kam es innerhalb von 2 Generationen zu einem Meinungsumschwung. Man versuchte, den externen Teil der Geräte weiter zu verbessern und konnte sie schließlich in Chipform gleich in das Gehirn implantieren. Die Hauptargumente dafür waren also die Konkurrenzfähigkeit der Menschen untereinander – also gleiches Recht für alle, sozusagen eine Umkehr der Ethik, nämlich, dass jeder das Recht auf einen Gehirnverstärker haben sollte und man keinen ausschließen dürfe. Ein Argument auf nationaler Ebene war auch die auch die Steigerung der Produktivität.
 
Ebenso gab es einen Disput über weitere Manipulationen, die westliche Welt hatte zunächst versucht, einen Konsens herbeizuführen, die Chips für Werbung zu sperren. Die Industrie argumentierte jedoch damit, dass sie die Werbeeinnahmen unbedingt benötigte, um die Chips in puncto Sicherheit und Verträglichkeit verbessern zu können. Die Politik sperrte sich auch nicht mehr hiergegen, sondern versuchte, selbst auch Werbung und Manipulation zu platzieren.
 
Diese Gedanken gingen Helmut durch den Kopf, er selbst, wie gesagt, trug keinen Chip, sondern nur eine Art virtuelle Brille. Seine Eltern hatten ihm später berichtet, dass sie bei seiner Geburt verzweifelt waren. Sie hätten zwar ihren Kind etwas implantieren lassen können, dieser Chip war aber nur bezahlbar, wenn er gleichzeitig mit vielen Möglichkeiten der Manipulation ausgerüstet war. Und hiergegen sperrten sie sich. Helmut erzählte jetzt Irene von seiner Beklommenheit, sie lächelte darüber und sagte, wenn es jetzt mir so ergehen würde wie dir, würde ich bei mir Wellness Typ 4 einschalten, es wirkt antidepressiv, und ich bin dann wieder ausgeglichen.
Das verbesserte seine Stimmung nicht. Auch wurde ihm ein Tag vor der Operation noch einmal richtig übel, als es darum ging, alle möglichen Abtretungen für eventuelle Schadensersatz-Ansprüche zu unterschreiben. Der Gesetzgeber forderte hier unter Anderem auch einen Konsens der Eltern und die Fürsprache eines begutachtenden Psychologen. Er musste mit allem einverstanden sein.
Dann kam der Tag der Operation.
 
 
 
 
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