Kritisches

Über die Definition von Kunst

Gespräch über Kunst und Angrenzendes
 
Achilles: Du hast mich gefragt, wie man Kunst zu verstehen hat. Ich habe jetzt eine Definition gehört, die denkbar einfach ist: als Kunst verstehe sich alles, von dem je ein Mensch ernsthaft behauptet hat, es handele sich um Kunst.
Schildkröte: Und du meinst damit jeden Menschen. Du meinst, dass jeder Mensch schon einmal den Begriff gehört hat und sich hierüber Gedanken gemacht hat.
Achilles: Ja. Sogar transkulturell.
Schildkröte: Damit wäre es der inflationärste Begriff, den ich überhaupt kenne.
Achilles: Ja. Eine geläufige Definition, die jeder sofort anwenden kann.
Schildkröte: Um Definitionen bemühen sich ja ansonsten Spezialisten, Menschen die sich eben auch mit dem Für und Wider von Abgrenzungen eingehend beschäftigt haben.
Achilles: Definitionen müssen einfach, allgemein verständlich sein, sie dürfen nicht nur im Elfenbeinturm gelten. Ich würde sagen, dass alle Definitionen aus dem kulturellen oder menschlichen Bereich so ihre Probleme haben. Starte doch einmal eine Umfrage, beispielsweise zum Begriff „Liebe“.
Schildkröte: Genau das ist es, die verschiedenen Arten der Definitionsversuche. Du kannst eine Umfrage starten, du kannst aber auch in der Fachliteratur nachlesen. Danach ist es dann hochinteressant, wie die Schnittmengen beschaffen sind, die sich dabei ergeben. Wobei es wieder problematisch ist, die Schnittmengen zu bestimmen; diese Art Mengen lassen sich eben nur durch eine reichliche Attributierung abgrenzen, die Unschärfe bleibt. Nebenbei bemerkt: wenn man sorgsam vorgeht, verhält sich die Schärfe der Definition proportional zur Menge der Attribute – Philosophen versuchen es, indem sie ein Ding „von verschiedenen Seiten beleuchten“. Und dabei schreiben sie dann Sermone.
Achilles: Es gibt überdies – wie ich meine – bei Begriffsdefinitionen zwei verschiedene Vorgehensweisen, welche ich mit „top down“ und „bottom up“ unterscheiden möchte.
Schildkröte: Ja, vielleicht müsssen wir diese Dinge erst betrachten, bevor wir uns an diese „Kultur-Probleme“ heranmachen.
Achilles: Ich habe eine Vorstellung davon, wie Menschen urteilen. Die „bottom up“ Methode ist die gefühlte Angelegenheit, das gefühlsbetonte Verfahren. Man bezeichnet den Vorgang in unserem Kopf auch als „Framing“. Bezogen auf „Kunst“: Jemand hat den Begriff Kunst einmal gehört und einige Leute haben ihn dann „ein-ge-nordet“, ihm – wahrscheinlich schon als Kind – gesagt oder irgendwie unbewusst mitgeteilt, dies sei Kunst und eben auch, dies sei keine Kunst, sie haben sozusagen ihren „Geschmack“ auf ihn übertragen. Bei diesen Menschen entwickelte sich dann ein „Gefühl“. Im weiteren Sinne kann man dies als kollektives Bewusstsein bezeichnen.
Schildkröte: Das was du sagst ist quasi allumfassend, daraus folgt, dass es die „top down“-Methode eigentlich gar nicht geben kann! Denn jeder Mensch hat den Begriff Kunst im Kindesalter schon verinnerlicht. Ein Experte hat eben auch ein „Framing“ und dann arbeitet er daran, dies zu konkretisieren oder wie ich eher sagen möchte, zu untermauern. Nebenbei bemerkt: ein Theologe glaubt erst an Gott und dann studiert er dieses Fach.
Achilles: Kommen wir doch einmal zur konkreten Begriffswirklichkeit: festzuhalten ist, dass naturgegeben jeder Begriff mit Emotionen behaftet ist. Das Wort Kunst ebenso, wie die Primzahlen oder die Zahl 495. Ich würde aber sagen, dass hier ein auch qualitativer Unterschied besteht.
Schildkröte: Ja. Je emotionsgeladener ein Begriff ist, desto „wissenschaftsträchtiger“ ist er. Das heißt, desto eher wird er untersucht. Alte Philosophen haben sich mit dem Begriff Gott beschäftigt und mit weiteren Begriffen, Liebe, Hass, Handeln und so weiter, schließlich wurde – schon in der Antike - von philosophischer Seite auch gefordert, sich mit Alltäglichem und Natürlichem zu befassen, dann kam etwa das Interesse an so selbstverständlichen Dingen wie die Schwerkraft, oder Temperatur oder, immer wieder gern genommen, der Begriff der Zeit. Alles ursprünglich gefühlsbetont.
Achilles: Jetzt kommst du vom Thema ab.
Schildkröte: Wenn du nicht verallgemeinerst, wirst du der Sache, deinen vielfältigen Assoziationen nicht gerecht.
Achilles: Nun ja, wir haben jetzt genug verallgemeinert. Nimm zum Beispiel einen „kulturbegeisterten“ Menschen. Er wird sofort mit seiner Beurteilung kommen, ob ihm etwas gefalle oder nicht.
Schildkröte: Wir erwähnten es ja: Emotionen, negative oder positive, wie man so schön sagt. Gefallen oder nicht gefallen, sogenannte positive Emotionen, oder eben negative. Für jede Sache wirst du einen Menschen finden, der sie für gut hält. Das hilft bei unserem Definitionsproblem wenig. Ein Beispiel: auch die faschistische Ideologie mit ihrem Begriff der „entarteten Kunst“ wird von manchen Menschen für gut gehalten. Immerhin taucht hier noch der Begriff Kunst auf, obwohl die Faschisten hierzu lieber abwertende Wörter gebraucht haben, mit denen sie die - ihrer Meinung nach - schädlichen Auswirkungen der Kunst beschimpft haben.
Achilles: Du verwechselst die Definition und die Beurteilung der Kunst. In diesem Falle die Beurteilung nach der Wirkung. Obwohl ich zugeben muss, dass die Beurteilung auch in die Definition eingehen kann. Wir müssen jetzt einmal bestimmte Positionen festhalten, um uns nicht zu verzetteln. Erstens: Begriffe, soziale Auswirkungen, eigentlich alles, werden nach mit Hilfe von Emotionen beurteilt. Es spielt keine Rolle, ob ich die Emotionen direkt mit dem Begriff verbinde, oder ob ich erst bestimmte Auswirkungen in meinem Kopf konstruiere und dieses wiederum emotional sehe.
Schildkröte: Es ist ja eigentlich anders herum zu betrachten: denn zuerst sind die Emotionen vorhanden, und dann folgen die Begriffe! Aber dies führt dann wieder vom Thema ab.
Achilles: Also nun konkreter: üblich ist es, eine wichtige Sache mit vielen Eigenschaften zu verknüpfen und dies ist bei dem Begriff Kunst sehr schön zu beobachten.
Schildkröte: Zurück zu deiner „Umfrage-Methode“. Wenn irgendein Mensch ernsthaft von Kunst redet, können wir voraussetzen, dass er einen gewissen Kulturbegriff hat. Er wird zum Beispiel ein Naturschauspiel, wie einen Sonnenuntergang oder das Verhalten der Vögel, nicht als Kunst bezeichnen. Es ist ihm klar, dass es sich um etwas von Menschen gemachtes handeln muss.
Achilles: Was weiß dieser Mensch denn sonst noch? Er merkt, dass ihm z.B. dieses Kunstwerk „gefällt“. Wenn es ihm nicht gefällt, nimmt er wahr, dass es evtl. anderen Menschen gefällt, er wird dann auch möglicherweise den Kunstbegriff hier zulassen.
Schildkröte: Und ich behaupte jetzt, dass du für alles menschen-gemachte jemanden finden wirst, der dieses als Kunst bezeichnet.
Achilles: Das ist ja genau mein Thema.
Schildkröte: Kritisch wende ich jetzt ein, dass ein solcher Begriff wenig nützlich ist oder sogar auch als Provokation verstanden werden kann. Es kommt nämlich darauf an, dass der Kunstbegriff noch verbunden wird, mit so etwas wie „wohlmeinend“, also in guter Absicht erschaffen.
Achilles: Du entwirfst hier eine Definition, die von Herstellungsprozess ausgeht.
Schildkröte: Ja, und dies reicht noch nicht. Stelle dir einen Politiker vor, der in guter Absicht ein Parteiprogramm erstellt. Oder ein Ingenieur, der einen Staubsauger entwirft, um die Hausarbeit zu erleichtern. Ist dieses Kunst? Es fehlt noch etwas bei der Definition über den Weg der Herstellung: wir müssen die Absicht des Produzenten eingrenzen.
Achilles: Also vom Empfinden der Menschen bei der Definition Kunst bist du jetzt weg, du forderst stattdessen eine Definition über den Herstellungsprozess mithilfe der Intentionen des Herstellers bzw. des Kunstschaffenden.
Schildkröte: Und diese Intentionen sind ja zweifellos vorhandenen.
Achilles: Du definierst ja das Kunstwerk über den Künstler. Ich fasse noch einmal zusammen, bevor wir uns im Konkreten verlieren. Es gibt einen Begriff, du versiehst ihn mit Eigenschaften, gedanklich benachbarte Dinge sind ebenfalls mit Eigenschaften versehen, dann kommt die Abgrenzung und die Definition einer Menge. In Bezug auf Kunst hast du offensichtlich zwei Möglichkeiten, die erste heißt, mit den Attributen der Wirkungen zu arbeiten, der Effekt, das sind Wirkungen auf den Menschen, hierbei erstens die subjektiv erfassten Auswirkungen, zum Beispiel was ein Jeder in Bezug auf Kunst und Kunstwerke meint und zweitens die Auswirkungen auf Fachleute und deren Urteil. Die andere Art der Definition scheint im Herstellungsprozess zu liegen: hier ist es dann die Person des Kunstschaffenden, welche attributiert wird, die menschlichen Eigenschaften, insbesondere die Absichten des Herstellers spielen hier eine Rolle.
Schildkröte: Wie schaffen wir es, uns über die Wertigkeiten der Definitionen zu unterhalten?
Achilles: Wir sind hier schon sehr weit fortgeschritten. Ich denke, dass eine solche genaue Definition sonst nicht üblich ist.
Schildkröte: Du hast ja damit angefangen, die Auswirkungen als Definitionsargument zu nehmen. Ich denke, es gibt hier keine klare Grenze, denn die Herstellung selbst hat schon ihre Auswirkungen, denn sie wird unterschiedlich wahrgenommen. Es gibt also hier eine Wechselwirkung zwischen Produktion und Rezeption.
Achilles: Also ein Wechselspiel und damit eine Unschärfe von Eigenschaften.
Schildkröte: Wir brauchen Beispiele und anhand dieser Beispiele vergleichen wir unsere Definitionen und schauen in uns selbst nach, ob dies unserem Eindruck entspricht, oder nicht.
Achilles: Jetzt haben wir es schon sehr allgemein erkenntnistheoretisch beziehungsweise kognitiv ausgelotet.
Schildkröte: Ja, frage doch mal einen Mathematiker, was eine Zahl ist! Es kommt dabei heraus, Zahlen sind „Denkkonzepte“. Und was sind Konzepte? Und mit der Definition des Denkens ist es ja auch schwierig; hier gibt es z.B. die Begriffe Anschauung, also etwas, das mit Sehen zu tun hat und die Bedeutung Begriff, also etwas, was mit Greifen zu tun hat, dies deutet darauf hin, dass unsere Vorgänger, die Tiere, sehen und greifen konnten - ohne zu wissen was sie tun -, und hierauf baute dann unser Bewusstsein auf.
Achilles: Sehr verallgemeinert. Aber: bei Wikipedia wird, unwidersprochen, Kunst als eine Tätigkeit definiert. Und dann kommt auch bei Wikipedia der Begriff Ergebnis vor.
D.h., die Dialektik, Tätigkeit und Ergebnis, welche wir herausgearbeitet haben, wurde schon einmal zur Definitionsfindung gedacht. Wir können uns an dieser Definition entlang hangeln.
Schildkröte: Interessant ist dort für mich außerdem der Satz: … Tätigkeiten, „die nicht eindeutig durch Funktionen festgelegt sind“. Für mich bedeutet eine Funktion, wenn ich zum Beispiel ein Werkzeug herstelle oder im Sinne habe, mit meiner Tätigkeit Geld zu verdienen, also wirtschaftlich erfolgreich zu sein.
Achilles: Am besten kann man den Künstler oder seine Tätigkeit durch bestimmte Eigenschaften charakterisieren: viel hiervon, nämlich: Phantasie, ergebnisoffen, funktionsoffen, gefühlt, authentisch. Und wenig hiervon, nämlich: Schielen auf die Wirkung, Öffentlichkeit, Ökonomie, also wenig Wert legen auf die Funktion meines Produktes, sei es Unterhaltung, Mode, technischer Nutzen. Beides zusammen ermöglicht die Abgrenzung der Kunst von zum Beispiel Ingenieursleistungen und industrieller Produktion. Nehmen wir zum Beispiel Comics. Diese wurden ursprünglich als eine rein zweckgerichtete Erfindung, um Geld zu verdienen, angesehen, jedenfalls nicht als Kunst im engeren Sinne. Jetzt, könnte man sagen, sind Comics als Kunstform anerkannt.
Schildkröte: Das sind eben die interessanten Unschärfen. Nebenbei bemerkt: immer wenn wir es mit unscharfen Definitionen zu tun haben, sollte man das narrative Element zu Hilfe nehmen, nämlich eine Geschichte dazu erzählen. Dies wäre bei dem Begriff Kunst, indem die über die Historie dazu berichtet wird.
Achilles: Man versucht ständig, Definitionen objektiv zu halten. Das was wir jetzt getan haben, nämlich die Definition nach dem Werk, beziehungsweise dem Künstler auf der einen Seite und andererseits nach den Ergebnissen oder den Wirkungen vorzunehmen, ist ein Bemühen um Objektivität. Es gibt aber auch eine Art subjektive Definition, etwa, wenn man beginnt: „für mich ist es aber so…“, oder wenn man formuliert, „damit kann ich nichts anfangen“ oder sagt, „mir nützt es“ oder auch „mir nutzt es nicht“.
Schildkröte: Darüber kann man dann trefflich streiten. Wenn wir philosophieren, dann ist das subjektive Element auch wichtig. Wir dürfen es nicht ausblenden, die Philosophie beschäftigt sich ja auch mit den Regeln, nach denen wir leben sollten, das ist dann sehr subjektiv, manchmal mit dem Anspruch einer Allgemeingültigkeit.
Achilles: der Versuch, die drei Arten der Definition zusammenzufassen, scheint mir sehr schwierig, wir können es trotzdem einmal versuchen.
Schildkröte: Der Künstler oder besser „der Künstler in seinem Werk“ hat eine Absicht und eine bestimmte Art der Kreativität, das ist die erste Herangehensweise. Die zweite ist die allgemeine Wirkung des Werkes, das allgemeine Empfinden, die Wirkung auf mich, das Subjektive, ist dann die dritte Art der Beurteilung.
Achilles: Und darüber hinaus: die Absicht des Künstlers bedeutet auch ein Empfinden, aus einem Empfinden heraus entsteht seine Absicht.
Schildkröte: Und der Rezipient hat auch ein Empfinden, somit können wir Kunst auch als eine besondere Art der Kommunikation interpretieren, zum Beispiel kulturell, sozial, auf einer Gefühlsebene, eventuell nonverbal. Eher nicht mystisch, nicht religiös oder transzendent, sondern mehr psychologisch, auf der Kreativität oder der Improvisation des Künstlers aufbauend.
Achilles: Eine Kommunikation ist es, eine bestimmte Art dessen, mit einer bestimmten Absicht, eine gute Absicht? Gut im sozialen Sinne? Im moralischen Sinne? Eben eine spezielle Art der Kommunikation.
Schildkröte: Zur Kommunikation gehört immer eine Information, also ein Inhalt und ein Übertragungsweg oder ein Medium.
Achilles: Und hier nimmt die Kunst einen speziellen Platz ein. Also wenn wir die Kunst als Kommunikation auf einer, ich möchte sagen Metaebene, einer gefühlsbestimmten Ebene, betrachten, sagen wir damit etwas über die Natur der Kunst, aber es ist viel zu unscharf, um eine Definition herzugeben.
Schildkröte: Eine Definition ist dies keineswegs, es umfasst eher eine Wesensart, wobei hier tatsächlich die Wirkung, nämlich die Gefühlswirkung betont wird. Nur ein Beispiel zur Definition: die Nationalsozialisten bezeichneten Kunst, die nicht in ihre politische Richtung passte, als „entartete Kunst“. Sie verwendeten somit auch den Begriff Kunst – wie oben bereits erwähnt. Sie hatten auch andere Begriffe auf Lager, zum Beispiel Kultur-Gestottere. Heutzutage gibt es offensichtlich wieder Probleme mit der Kunst aus dieser Zeit, die damals Mördern wie Adolf Hitler gefiel. Auch Adolf Hitler kaufte insbesondere darstellende Kunst. Heute ist man sich nicht einig, ob man Kunst, die seinerzeit einem Mörder gefallen hat, als Kunst beurteilen soll.
Achilles: Kunst und Gefühlsebene: Kunst kann verherrlichen, zum Beispiel habe ich Probleme, wenn Gewalt verherrlicht wird, wie zum Beispiel in Action-Filmen. Kunst kann aber auch trösten, mahnen, beruhigen, das Bewusstsein erweitern, an etwas erinnern, oder auch mit negativen Gefühlen verbunden sein. Eben alles, das, was man auf der Gefühlsebene zu Stande bringt.
Schildkröte: Dies betont aber noch einmal die Subjektivität des Ganzen.
Achilles: Die Bedeutung der subjektiven Art der Definition.
Schildkröte: Für mich ist die Umkehrung interessanter, nämlich, wenn jemand sagt, für mich ist dieses keine Kunst.
Achilles: Kommen wir noch einmal zu eigentlichen Definitionen zurück. Wenn ich Kunst wahrnehme, findet eine Kommunikation mit dem Künstler statt. Ich bin dann der Meinung, dass der Künstler ein Anliegen ausgedrückt hat und ich dies verstehe. Und zwar ein Anliegen und eine Kommunikation welche mehr auf der Gefühlsebene anzusiedeln sind. Beispiel: wenn mir im Geschäft ein Verkäufer ein Brötchen verkauft, ist dies eine geschäftsmäßige Angelegenheit, und nur in seltenen Fällen eine Kunst, weil vom Verkäufer und vom Brötchen normalerweise keine Emotion ausgeht. Wenn ich mich mit einem Produkt aus industrieller Fertigung abgebe, würde ich nicht von Kunst beziehungsweise von Kommunikation im Sinne der Kunst reden. Dies gilt eben auch für Produkte bei denen ich nur eine reine Gewinnabsicht erkennen kann. Zum Beispiel, wenn ich in einer Achterbahn fahre oder mir einen Horrorfilm anschaue, bin ich zwar emotional beteiligt, es ist dann aber keine Kunst in meinem Sinne, denn auf der Anbieter-Seite steht für mich lediglich eine Gewinnabsicht und dies ist für mich banal und somit keine Kommunikationsmöglichkeit mit dem so genannten Kunstschaffenden. Ich nehme also beim Produzenten eine bestimmte Haltung oder Absicht an, ich setze sie voraus, ich antizipiere sie, und hiervon ist mein Kunstempfinden abhängig.
Schildkröte: Lass uns doch einmal die drei wesentlichen Abgrenzungsversuche der Kunst herausarbeiten, die erste Abgrenzung liegt bei der Tätigkeit des Künstlers, die zweite bei der allgemeinen Rezeption und die dritte bei der subjektiven Rezeption.
Achilles: Die erste und zweite Art der Definitionsversuche haben wir eigentlich schon hinter uns, aber das dritte Moment, nämlich das Subjektive kann man noch viel besser beschreiben und dies ist auch erforderlich, weil es die Art der Kommunikation zwischen Kunst und Kunst-Rezeption betrifft.
Schildkröte: Es ist allerdings eine asymmetrische Kommunikation.
Achilles: Ja, der Künstler geht voran.
Schildkröte: Weißt du was mir da gleich spontan dazu einfällt, es ist das Stichwort Improvisation.
Achilles: Ja, der Kunstschaffende, woran denkt er, wenn er etwas kreiert.
Schildkröte: Es kommen immer zwei Dinge zusammen, nämlich die Inspiration und die Improvisation. Die Inspiration ist irgendein Eindruck, ein Erlebnis, ein Gedächtnisfetzen, Ein Bild oder in der Musik zum Beispiel eine Kadenz, die den Schaffenden zum Nachdenken anregt. Es ist eine Emotion.
Achilles: Eine fruchtbare Emotion.
Schildkröte: Sie wirkt beim Künstler in die Tiefe. Mit fruchtbarer Emotion meinst du, dass sie sozusagen wachsen kann, mit Wurzeln in die Tiefe und einem Spross an die „Oberfläche“.
Achilles: Was meinst du mit Wachsen?
Schildkröte: Ich meine es im tatsächlichen morphologischen Sinne, dass sich Assoziationen abspielen, durch Nervenzellen hergestellte Verknüpfungen und ich meine auch, dass man sich gut vorstellen kann, dass diese Verknüpfungen in verschiedene Richtungen verlaufen. Wenn sie sich einerseits in die bewusstseinsferne Tiefe ausbreiten, finden sie Verbindungen zu anderen Affekten oder Emotionen und werden weitergeleitet, falls eine bestimmte Erregungsstärke durch weitere Assoziationen erreicht ist. Wenn sie sich zur „Oberfläche“ hin ausweiten, können sie bewusst werden, als die unterschiedlichsten motorischen Äußerungen. Ich sage Motorik – ich meine dies im medizinischen Sinne – weil Bewusstsein und Motorik zusammenhängen! Zum Beispiel bei Musik. Hier sind es Töne, Dreiklänge, eine Folge von Tönen als Melodie oder auch ein Rhythmus, bestimmte zeitliche Abläufe und bestimmte Lautstärken. Beim Kunstmaler wären es bestimmte Farben und Formen oder Helligkeiten und Perspektiven, bestimmte Arten der Farben und Materialien. Beim Literaten wären es die Worte, die Sätze, vielleicht auch der Klang der Sprache oder abstrakter gedacht, die Begriffe, und ihre Beschreibungen.
Achilles: Das hast du gut ausgedrückt, es entspricht auch meiner räumlichen Vorstellung des Gehirns. Es ist allerdings wenig spezifisch für künstlerisches Schaffen, sondern es gilt für alle möglichen Vorgänge unseres Geistes.
Schildkröte: Du hast völlig Recht, ich denke auch, dass das Prinzip unserer mentalen Tätigkeit – der Noetik - immer das gleiche ist. Wir kommen in Bezug auf unseren Kunstbegriff dann weiter, wenn wir quantitative Unterschiede annehmen.
Schildkröte: Ja, hierzu fällt mir auch gleich etwas ein, nämlich, wie tief wir in unsere eigene Gefühlswelt eindringen, diese spezielle oder auch allgemeine Art der Introspektion, dass Sich-Gehen-Lassen und das Träumen, das Schwimmen im Gefühl, ohne, dass es gleich zu einer Äußerung führt.
Achilles: Diesbezüglich sind die Menschen unterschiedlich. Man nennt dies ja wohl auch Fantasiebegabung.
Schildkröte: Das träumerische, unproduktive Assoziieren, es führt eben in die Tiefe, und man weiß nicht genau wo es wieder auftaucht, eventuell an einer ganz unvorhergesehenen Stelle, in einem für das Bewusstsein unerhörten Bereich, so, wie man sagt, abwegig, dass es kein zweiter Mensch ohne Hilfe (ohne die Hilfe der Kunst?) verstehen kann.
Achilles: Ich denke, hier sind wir schon beim wichtigsten Unterschied der verschiedenen Tätigkeiten. Die Menschen unterscheiden sich vor allem darin, wie weit sie sich in ihre Fantasie verlieren können. Fantasie kann ja durchaus etwas, für das Funktionieren der Gesellschaft Schädliches oder Destruktives sein. Eben etwas, was wir zum Beispiel als Spinnerei bezeichnen würden.
Schildkröte: Und genau diese quantitativen Unterschiede können wir mitbenutzen, um Kunst zu definieren, nämlich, mit welchem Fantasiegehalt ein Produkt zu Stande gekommen ist. Zum Beispiel: jemand schafft etwas, mit dem gedanklichen Hintergrund, hiermit Geld zu verdienen, zum Beispiel ein Künstler, wenn er weiß, dass diese und jene Sache aktuell nachgefragt wird. Der Künstler oder der Produzierende arbeitet dann mit bestimmten Schemata und benutzt seine Fantasie allenfalls, um diese Schemata etwas zu variieren. D.h. ein kleiner Umweg in das Reich der tieferen Assoziationen, um wieder an einer ähnlichen Stelle der Oberfläche zurückzukehren. Wenn dann zufällig doch etwas Unkonventionelles entstehen sollte, kann es ja verworfen werden – durch ein externes Urteil (eine „Beratung“) zum Beispiel. Dann das zweite Beispiel: ein kunstschaffender taucht tief in seine Emotionen ab und findet schließlich die entsprechende motorische Äußerung hierzu, eventuell in einem langen, Energie zehrenden Vorgang des Auftauchens. Wenn er die Arbeit vollbracht hat, wird sie ihm wichtig sein, egal, ob er sich verstanden weiß oder nicht. Das ist hier die geläufige Vorstellung des armen und etwas verrückten Künstlers, der aber einen Zwang verspürt, immer weiter zu produzieren.
Achilles: Und deine Zusammenfassung? Beispiel eins wäre keine Kunst und Beispiel zwei wäre Kunst. Wobei hier wichtig ist, dass der Künstler, wenn er sich outet, eine womöglich neue und risikobehaftete Art der Kommunikation will, auch mit dem Risiko, zu scheitern.
Schildkröte: Ja, das wäre unsere Definition der Inhalte und der Kommunikation von der Seite des Kunstschaffenden her beurteilt.
Achilles: Und nun zur perzeptiven Seite.
Schildkröte: Wir können hier eine inverse Situation konstruieren. Unter der Vielzahl der Menschen wird es einige geben, die schon einmal Ähnliches erlebt haben, wie der Künstler, sie können mit ihm abtauchen in phantastische Tiefen und kommen tatsächlich an einer ähnlichen Stelle wieder mit ihm zusammen an die Oberfläche, eben das was wir „nachvollziehen“ nennen. Es kommen hier wieder zwei Dinge zusammen, nämlich der Wille und die Fähigkeit, die Wege nachzugehen. Der Wille ist sozusagen eine vorgeschaltete Emotion.
Achilles: Wenn du sagst nachvollziehen, dann fällt mir hier noch ein weiterer wichtiger quantitativer Unterschied ein, nämlich der der verschiedenen Kunstgattungen. Wenn eine Kunst ein bestimmtes Material oder Medium benutzt, wie zum Beispiel die Optik bei Bildern oder die akustischen Wahrnehmungen, so ist immer eine gedankliche Arbeit vonnöten, um zu - ich nenne es so - tieferen Emotionen zu gelangen. Wenn aber eine Kunstgattung mit mehreren Materialien arbeitet, wie zum Beispiel das Kino, dann wird der Konsument mit mehreren unterschiedlichen Sinneseindrücken zu bestimmten Gefühlen hingeführt. Wenn wir zum Beispiel einen Horrorfilm nehmen, dann kann können ekelhafte Bilder mit ekelhaften Geräuschen und auch ekelhaften Worten eine gemeinsam eine Emotion erreichen, es ist sozusagen für den Konsumenten ein Gewaltakt, also man könnte sagen, es ist keine große Kunst, ihn in eine bestimmte Situation zu lenken.
Schildkröte: Ja, es ist zum Teil das, was man beim Empfänger als Kunstverständnis bezeichnet. Die Mühe der Arbeit des Wahrnehmenden ist unter Umständen recht kompliziert und aufwändig oder, bei drastischen Dingen, bedarf es keiner gedanklichen Arbeit, vielmehr wird der Konsument gewaltsam zu einem bestimmten Gefühl gelenkt.
Achilles: Wir haben also auf der Wahrnehmungsseite die Kriterien Nachvollziehbarkeit und Emotionstiefe herausgearbeitet. Sie können dem Konsumenten zur Abgrenzung des Kunstbegriffes auf der Wahrnehmungsseite dienen. Sie zeigen gleichzeitig, dass sowohl die Grenzen, als auch die „Qualität“ unscharf beziehungsweise unterschiedlich sind, je nachdem, wie die Nachvollziehbarkeit gegeben ist oder welche Tiefe der Emotionen erreicht wird.
Achilles: Ja und hier gibt es wohl auch Versuche, dieses allgemeingültig fest zu schreiben, zum Beispiel, wenn bei einem Werk das technische Können beurteilt wird.
Schildkröte: Weißt du, was mir bei dem ziemlich technischen Wort „nachvollziehen“ noch einfällt?
Achilles: Na ja, wir haben es nicht erschöpfend abgehandelt.
Schildkröte: Es ist das Substrat des Eros, der Liebe! Das Wandern durch die Tiefen der Gefühle, wenn es gemeinsam geschieht – die Gemeinsamkeit kann auch eingebildet sein – bewirkt das Gefühl einer großen Befriedigung. Gleiche Wünsche, gleiche Gefühle, ein Gleichklang, der mit Erfüllung, vielleicht sogar mit Erlösung zu tun hat.
Achilles: Mit Sex.
Schildkröte: Und jetzt zum Subjektiven. Achilles, was ist für dich Kunst?
Achilles: Ich merke, wenn mich etwas berührt. Dies ist wohl eine Voraussetzung, sie hat noch nichts mit Kultur zu tun, es kann genauso bei einem Naturschauspiel sein, wie etwa ein bunter Schmetterling, oder das Geräusch des Meeres, oder ein bestimmtes Panorama der Landschaft. Wenn mich ein Kulturprodukt berührt, kann ich es schon Kunst nennen. Positive Beispiele hierzu sind, wenn mir bei einem Musikstück ein Schauer über den Rücken läuft, oder, wenn mir bei einem Bild eine besondere Kombination von Rot und Grün entgegenschaut, welche mich an irgendetwas erinnert, ich weiß aber nicht was, und muss darüber nachdenken, oder, wenn ich ein Buch lese, welches eine Person beschreibt, über die ich lange nachdenken muss, weil sie bestimmte Ähnlichkeiten und eventuell auch Ähnlichkeiten mit mir selbst zu haben scheint.
Schildkröte: Von meiner Seite kann ich noch hinzufügen, dass bei meiner Wahrnehmung der Kunst noch das Moment der Überraschung hinzukommt. Um bei deinen Beispielen zu bleiben, vielleicht, dass ich jetzt eine Rot-Grün-Kombination sehe, die mich diese Farben plötzlich anders betrachten lässt und ich sehe dann auch andere Farbkombinationen auf eine andere Art und Weise. Oder, dass ich eine Melodie höre und mit dem Verlauf der Melodie vielleicht nicht einverstanden bin, dann aber plötzlich merke, dass sie doch harmonisch ist und auf eine für mich angenehme Weise endet. Es ist eben, um im Bilde zu bleiben, das Auftauchen aus dem Reich der Emotionen an einer neuen, und unvorhergesehenen Stelle der Begrifflichkeit, des Bewusstseins. Kurz gesagt, es muss neu sein.
Achilles: Wenn du sagst neu, dann fällt mir das Stichwort Lernen ein. Ich denke du hast in diesen Momenten etwas gelernt.
Schildkröte: Natürlich. Mit Kunst wird etwas transportiert, zum Beispiel auch soziale Belange. Einerseits ist es eindeutig erkennbar, an der von staatlicher Seite eingeräumten Bedeutung von Kunst, an der Bedeutung, welche der Staat der Kunst zumisst. Man kann dies zum Beispiel an der heroischen Kunst im Kommunismus sehen oder auch in totalitären Staaten. Ja, es ist ganz interessant, es ist gerade eine Diskussion im Gange, ob es künstlerisch verwerfliche Absichten und damit eine schlechte Kunst geben könne. Jedenfalls kommt diesem Transportmechanismus der Kunst eine eminent pädagogische Bedeutung zu. Jedenfalls wurde Kunst als Autorität erkannt und ist deshalb auch in der Politik ein gefragter „Partner“, Stichwort hierzu ist Kulturalismus, oder noch aktueller: Tittytainment.
Achilles: Will denn Kunst eigentlich erziehen?
Schildkröte: Das ist ja genau der Streitpunkt. Ich würde sagen, dass es zwei Gruppen von Meinungen gibt, erstens, dass Kunst Unterhaltung sein soll und womöglich wertfrei und zweitens, dass Kunst Erziehung und Welt-Verbesserung sein soll.
Achilles: Hier spielt ja wohl auch der Begriff „Bildung“ eine Rolle.
Schildkröte: Und dann geht es auch gleich weiter mit „Humanismus“.
Achilles: Mir kommt das Buch von Dietrich Schwanitz, „Bildung“, in den Sinn. Natürlich geht es um Kunst und um die „Bildung“, welche dadurch erreicht wird; es wird einiges definiert, auch narrativ, zum Beispiel die Wirkung auf junge Menschen (s. 482).
Schildkröte: Ja, was fängt man mit Kunst und Kultur an?
Achilles: Meinst du dies von Seiten der Konsumenten oder auch von Seiten der Kunstschaffenden?
Schildkröte: Beide Seiten. Aber der Ausgangspunkt ist hier eben der Künstler. Jetzt könnte ich vereinfacht sagen, wenn jemand mit seinem Produkt nur unterhalten will, dann kann seine Absicht nur sein, gefallen zu wollen und Geld zu verdienen. Wenn ein Künstler aber die Welt verbessern will, dann setzt er vielleicht mehrere Mittel ein, um sein Ziel zu erreichen, zum Beispiel auch den Unterhaltungswert seines Produktes, er wird aber die Aussage des Werkes über die Gewinnabsicht stellen. Und ganz wichtig ist: im ersten Falle: wenn jemand mit seinem Werk anderen gefallen will, wird er möglichst konservativ vorgehen, weil sonst das Risiko besteht, dass sein Werk, wie man so sagt „durchfällt“. Es gibt natürlich fließende Übergänge, die Akzeptanz eines Werkes hängt auch mit dem Bekannt-Werden zusammen und dieses kann nicht nur durch eine allgemeine Zustimmung erreicht werden, sondern auch durch eine Ablehnung, welche vielleicht die Sache besonders interessant macht oder das Interesse durch eine Provokation erweckt.
Achilles: Wir waren doch bei der subjektiven Einschätzung der Kunst; in Bezug auf den pädagogischen oder Weltverbesserungsanspruch eines Werkes würde ich sagen, dass mir Werke mit einem solchen Anspruch in vielen Fällen willkommener sind. Je nach Kunstgattung bin ich allerdings auch einmal konservativer eingestellt.
Schildkröte: Es geht mir genauso.
Achilles: Das Wesen der Kunst, genau so schillernd wie das menschliche Zusammenleben.
Schildkröte: In jeder Hinsicht sind die Aspekte der Kunst und Kultur ein getreues und umfassendes Abbild menschlichen Verhaltens.
 
 
 
 
» zurück