Kritisches

Politiker und Populismus (der Mediziner meint)

Politik - Populismus
 
Die guten Kliniker bei der Mediziner-Ausbildung reiten darauf herum:
Es gibt Befunde/Symptome, Diagnosen und schließlich die Therapien. Und u.U. noch die Prognose. Alles ist fein säuberlich zu trennen! Man wird aber sehen: durch das Wechselspiel von Symptomatik und unterschiedlichen Wirkungen ist die Trennung nicht so einfach.
(Leider geht es dann doch bei vielen Ärzten durcheinander, wenn sie auf die Menschheit losgelassen werden.)
 
 
Symptomatik
 
Für den Mediziner ist alles klar: Populismus ist nicht eine Krankheit, sondern ein Symptom. Die eigentliche Krankheit heißt „Orientierungslosigkeit“ eine Krankheit nicht im engeren, sondern eher im weiteren Sinne und dann gut unterzubringen bei den Neurosen, beziehungsweise der Neurosenlehre.
Eine Neurose hat immer mit Angst zu tun. Der Begriff Angst ist nicht unbedingt so allgemeinverständlich, wie man denken könnte. Angst heißt in meinem psychodynamischen Verständnis: einer Triebabfuhr entgegenstehend und dieses in den unterschiedlichsten Zusammenhängen und mit ganz unterschiedlicher Intensität. Von: „ich werde es nicht schaffen, vor diesem wilden Tier weglaufen zu können“ über „keiner meint es gut mit mir und es wird wohl so bleiben“ bis zu „naja, ganz schön schwierig diese Aufgabe, es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ich sie nicht werde lösen können“.
 
Auf die Neurosen bezogen muss natürlich diese Angst ein gewisses Ausmaß haben und somit das Individuum überfordern, d.h. sich krankmachend auswirken. Das Individuum unternimmt dann Selbstheilungsversuche (welche unter Umständen skurril ausfallen). Manchmal werden richtige Strategien (vielleicht nach guten Ratschlägen) angewendet, manchmal Sackgassen beschritten, z.B, mentale und soziale Abkapselung und so weiter.
 
Jedenfalls ist bei Neurosen Angst im Spiel und speziell für unseren Fall gibt es den Begriff Sozialangst.
 
Unsere Neurose „Orientierungslosigkeit“ besteht aus der Angst, mit zahlreichen (Reizüberflutung) Einflüssen oder besser gesagt Direktiven, nicht klar zu kommen.
Aussagen werden als unverständlich oder widersprüchlich wahrgenommen, der Mensch kapituliert vor der gedanklichen Arbeit, welche er eigentlich aufwenden müsste, um die Probleme zu lösen.
 
Das ist alles nichts neues, Phänomene dieser Art sind sehr gut zu beobachten, zum Beispiel bei jungen Menschen in der Pubertät. Bei Jugendlichen kann man regelmäßig beobachten, dass es Phasen gibt, in welchen sie Ruhe gelassen werden wollen. Ein völlig normaler Mechanismus. Es kann hier eindrucksvoll beobachtet werden, wie sich der Orientierung suchende Mensch seine „Denkräume“ einrichtet. So nenne ich Themengebiete mit mehr oder minder zahlreichen Assoziationen, welche eben nicht Angst besetzt sind, vielmehr führt die Beschäftigung hiermit zu sozialen Erfolgen (…Freundschaften, sozusagen das Gegenteil von Sozialangst). Im psychoanalytischen Sinne: der Triebabfuhr förderlich.
Zum Beispiel sind hier zu nennen: Gespräche mit Freunden, Kontakte knüpfen, Anerkennung.
 
(Wenn hier eine gewisse Praxis (häufige Ausübung) gegeben ist, kann zusätzlich etwas Positives gefühlt werden, zu bezeichnen als Heimatgefühl. – S. Freud würde diese positiven Dinge als „libidinös besetzt“ bezeichnen.
Oder anders formuliert: wenn z.B. ein Politiker seine Thesen häufig vorbringt (womöglich auch mit Bestätigung durch sein Publikum) entwickelt sich bei ihm auch so etwas wie ein Heimatgefühl – ich würde behaupten, er kann sich diesem Mechanismus unmöglich entziehen.
Auch hier zu erwähnen: wenn man auf einer gefühlsmäßig tieferen Ebene – also im frühkindlichen Alter angeeignet - genug „Denkräume“ zur Verfügung hat, bedeutet dies auch „Resilienz“.)
 
Aber: diese „Denkräume“ haben zwar Türen zu anderen Bereichen, aber eben auch Begrenzungen, Mauern. Es sind die Grenzen, an denen das Individuum gedanklich scheitert und welche mit Angst besetzt sind. Das „Weiterdenken“ ist hier schmerzhaft und wird normalerweise vermieden. Man kann sich hier eine Vermeidungsstrategie vorstellen, also ein Sich-Fern-Halten von den Mauern oder auch ein Entwischen durch die Tür in den nächsten Raum. Die Strategie natürlich ist umso aufwändiger, je kleiner die Räume sind.
 
Diese Strategie ist nun von Bedeutung, auch um den Populismus zu erklären. Vom Menschen selbst auferlegte Strategien wären z.B. „Denkverbote“, „Abgrenzung“.
 
 
Therapie
 
Wenn das Individuum aber mehr unternimmt, um Angst fern zu halten, könnte man schon von Selbstheilungsversuchen sprechen. So ein Versuch wäre es z.B. wenn man beschließt, dass man mit bestimmten beängstigenden Umständen – insbesondere sind dies natürlich andere Menschen – grundsätzlich nichts mehr zu schaffen haben will. Und genau dies bedeutet dann Abgrenzung.
 
Mit Abgrenzung im engeren Sinne meint man aber auch eine Art Selbstbestimmung, den Versuch einer Definition seiner selbst. Sich selbst kennen. Also: sich bestimmten gesellschaftlichen Normen zuordnen. Hier kommt das Ausgrenzen ins Spiel. Es ist eben vielfach einfacher, sich negativ zu definieren, nämlich, das was man nicht ist zu beschreiben. Am geläufigsten ist hier die Formulierung: „ich bin gegen…“. Warum ist es einfacher? Weil es hierfür griffige und einfachste Formulierungen gibt, z.B. in politischen Diskussionen.
 
Der wichtige Punkt: natürlich ist die Abgrenzung für einen Menschen umso notwendiger und dann auch vehementer, je kleiner seine Denkräume und je massiver die eingrenzenden Mauern beschaffen sind. Man könnte auch sagen, je weniger das freie Assoziieren möglich ist.
 
Bei diesem Vorgang des Abgrenzens, wenn er dringend ist, wird eine Hilfe von außen willkommen sein. Grundsätzlich bietet jede Art von Erziehung diese Hilfen. Diese Hilfen sind natürlich unterschiedlichster Natur, von emotionsarm bis emotionsgeladen, von befreiend und erweiternd bis einengend, moralisch, unmoralisch, mit direktivem oder empfehlendem Charakter.
 
Für uns ist bei den Hilfen die Gruppe der „Heilslehren“ interessant. Dabei ist irrelevant, wie sie objektiv eingruppiert werden, wichtig ist, dass ihre „Internalisierung“ beim Individuum zu einer Minderung des Unsicherheitsgefühls führen.
 
Unschwer können alle Spielarten populistischer Angebote hier eingeordnet werden. Nämlich in die Hilfsangebote, welche – in einem bestimmten zeitlichen und sozialen Rahmen – für das Individuum eine Erleichterung bewirken.
 
Der Mechanismus: die Gedanken immer wieder auf bekannte Gebiete zurückführen, eben in die gewohnten Denkräume. Abweichungen werden nicht zugelassen.
Eine Richtschnur des Denkens, die im Kreis gelegt ist, so dass sie die Wände niemals berührt. Die Schnur kann auch auf kürzestem Weg (was ich gern als kurzschlüssiges Denken bezeichne) in einen anderen Raum führen. Es ist ganz einfach: je kürzer die Richtschnur, desto einfacher die Therapie. Im Idealfall verbindet sie auf kurzem Weg genau die Räume, welche für den alltäglichen Bedarf ausreichend sind. Wenn eine gewisse Vollständigkeit für das Leben erreicht wird, kann man von einer in sich geschlossenen Lehre sprechen.
 
Bezogen auf das politische und soziale Verhalten werden diese Bedingungen in hohem Maße durch den Populismus erfüllt. Populismus: populistische Angebote werden angenommen und verinnerlicht.
 
 
Probleme der Therapie
 
Diese Mechanismen sind jedoch nicht völlig starr. Das Angebot an Richtschnüren ist groß und es wechselt sozusagen täglich. Und hier kommt die Rolle der neuen Medien zum Tragen. Ein unselbstständiger Mensch wird sich kurze Richtschnüre aussuchen, beziehungsweise einfache und mit Autorität (ich nenne dies gern “Vordenker“) vorgetragene Erklärungen. Dies ist die Eintrittspforte des Populismus.
 
Negative Auswirkungen: Einengende Weltbilder. Der Übergang vom Abgrenzen zum Ausgrenzen. Abgrenzen ist eher passiv, Ausgrenzen hat schon eine aktive aggressive Komponente. Insbesondere Moralvorstellungen tragen zum Ausgrenzen bei („klare Kante zeigen gegen..“, „Lügenpresse“).
Je kürzer die Richtschnur des Denkens angelegt ist, desto schwieriger wird die Kommunikation, weil die Schnittmenge von erlebten Gemeinsamkeiten gegen Null geht. Dann sind auch Missverständnisse wahrscheinlich. (Beispiel: Das Missverständnis um das Lied von Heinz Rudolf Kunze, „Willkommen liebe Mörder“.)
 
Was ist neu: neu ist die „Reizüberflutung“ durch die neuen Medien und damit nicht unbedingt eine vermehrte Flut an Fragestellungen, sondern eher ein Überfluss an Erklärungen! Auf der Seite der Fragestellungen gibt es natürlich auch Neues: die Globalisierung (es gibt nicht mehr die „Nicht-Menschen“ in den unbekannten oder auch exotischen Kolonien, es gibt nicht mehr die „Nicht-Religionen“, mit denen man sich noch nie beschäftigt hat. Und es gibt – neu - die Umweltproblematik.
 
Angesichts dieser Umstände – für viele Menschen viele Fragen und zu viele Antworten – ist es im Grunde genommen ganz normal, dass das Spektrum der menschlichen Reaktionsweisen breiter und extremer wird. Auch, dass in größerem Umfang kurzschlüssige Erklärungen und Heilsversprechen angewendet werden. (Offensichtlich nimmt bei uns im Land derzeit auch die kurzschlüssigste Erklärungsart zu, nämlich den Diskussionsgegner als Lügner zu disqualifizieren; raueres soziales Klima, „postfaktisches Zeitalter“.)
 
Natürlich ist dies alles banal, aber dennoch wird ein wichtiger Umstand m.E. noch nicht in seiner Brisanz erkannt. Brisanz deshalb, weil hier – wechselseitig - selbstverstärkende Wirkungen auftreten, die zur Vernichtung von Solidarität führen!
 
Es ist wichtig: Wenn sich ein Mensch auf neue Fragen Antworten zurechtlegt, ist dies (medizinisch) als Selbstheilungsversuch anzusehen. Und Heilungsversuche sind zunächst einmal wichtig und richtig. Bei solchen Versuchen müssen Menschen unterstützt werden und zwar von Menschen, die zunächst einmal in der Lage sind, in einer Diskussion eine gemeinsame Basis zu finden (Streitkultur).
 
Ich möchte behaupten, dass ein einfühlsamer Diskussionspartner hier einiges erreichen kann, wenn er sich der Angst des Gegenübers bewusst ist!
 
Ich würde überdies behaupten, dass nur bei wenigen Menschen diese Unterstützung sinnlos ist (unheilbar Kranke), nur bei wenigen „Radikalen“. In Bezug auf die Politik würde ich sagen, dass auf der Wähler-Seite nur wenige Fälle „hoffnungslos“ sind. – Diese Menschen würden niemals – auch bei gegebener Introspektionsfähigkeit - von sich sagen, dass sie orientierungslos sind.
Bei den politisch aktiven Menschen ist der Prozentsatz natürlich hoch (siehe den o.g. Mechanismus), der Anteil der an der Bevölkerung ist hier insgesamt jedoch eher gering.
 
„Wir“ selbst gehen nicht davon aus, dass wir von der Krankheit „Orientierungslosigkeit“ befallen sind. Wir entdecken bei anderen Wissenslücken und Unsicherheit. Die Basis für ein „Therapiegespräch“ sieht natürlich anders aus. Hier geht es dann darum zunächst einmal gemeinsam vorhandenes Menschliches zu entdecken und dann - hiervon ausgehend - Erfahrungen und aktuelle Einflüsse aufzuarbeiten. Hier hat derjenige mit einer Vielzahl großer Denkräume durchaus etwas anzubieten.
 
 
Prognose
 
Die Entwicklung des Populismus: Die gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA gehen erfahrungsgemäß denen in West-Europa voraus, weshalb die Betrachtung hier besonders faszinierend ist.
 
Natürlich muss gesagt werden, dass dieses Kritisieren der Populismus-Entwicklung in den westlichen Ländern ein Klagen auf hohem Niveau ist. Natürlich reagieren die „noch funktionierenden“ Demokratien auf den Populismus besonders empfindlich. In nicht-demokratischen Ländern ist die Spaltung der Bevölkerung unter Umständen viel schwerwiegender, sie lässt sich hier aber nicht durch politische Wahlen feststellen.
 
Dennoch: die Spaltungstendenzen in den westlich orientierten Demokratien sind allemal beunruhigend. Und es tut weh, wie auch „Wohlmeinende“ nicht davon abzubringen sind, durch Verteufelung von radikalen Andersdenkenden die Situation zu verschlimmern.
 
Gereon Walther
 
 
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